Dezember 1510, bei Meiningen, der Mond schien mit silbernem Licht auf den Waldboden. Es war ein warmer Frühlingstag, aber nun hatte sich eine kühle Brise über die Stadt und den Wald gelegt. Eine Frau schleppte sich mühsam durch den Schnee. Die gerade 2-jährige Tochter an ihrer Hand quengelte lautstark. Die junge Frau hatte ihr zu Hause verlassen müssen, weil sich raffgierige Verwandte ihr Wittum angeeignet hatten, nachdem ihr Ehemann an einem Fieber gestorben war. Man sah, dass sie hochschwanger war und sie fühlte, dass sie schon kurz vor der Niederkunft stand. Nun konnte sie nicht weiter. Erschöpft ließ sie sich in den Schnee sinken. Die Kleine sah ihre Mutter entsetzt an. Sie war noch sehr jung, aber schlau genug um zu wissen, dass dies den Tod bedeuten konnte. „Dein Geschwisterchen kommt“, stöhnte die Schwangere. Sie wusste, dass die Presswehen nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Auf einer Decke, die eine der wenigen Habseligkeiten war, die sie mitgenommen hatte, brachte sie unter großen Schmerzen einen gesunden Jungen zur Welt. Mit letzter Kraft band sie mit einem Stoffstreifen die Nabelschnur ab und durchtrennte sie mit einem scharfen Messer. Doch das Blut wollte nicht aufhören zu fließen. Die Frau ahnte, dass sie sterben würde. Sie wandte sich an ihre Tochter, die wimmernd neben ihr hockte. „Cecilia, pass auf deinen Bruder auf!“, sagte sie mit letzter Kraft. Die Kleine hielt den Säugling auf dem Arm und hatte entsetzt dem Blutfluss zugesehen. Als die Augen ihrer Mutter brachen und sie sich nicht mehr rührte, rief sie leise: „Mutter? Mutter!“ Erst nach und nach erkannte das Mädchen, dass ihre Mutter für immer die Erde verlassen hatte.